Ein Stadtteil im Dauerumbruch
Imperiale Kanonengießerei:
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Im Buch: Ort 102
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Tophane heißt einfach Kanonengießerei. Dieser unübersehbare Bau mit den vielen Kuppeln und Entlüftungskaminen ist für den Namen der Gegend verantwortlich: die Tophane-i Amire. Die Ursprünge dieser Waffenfabrik gehen auf 1453 zurück, also auf die Eroberung von Konstantinopel. 1823 wurde der Bau bei einem Brand stark zerstört und erneuert. Tophane war wohl das älteste Industriegebiet von Istanbul.
Heute wird das Haus als Ausstellungshalle genutzt; unter der Obhut der Mimar-Sinan-Universität der Bildenden Künste.
Man muß sich hier die alte Küstenlinie dort vorstellen, wo heute die Hauptstraße verläuft, also dort, wo die Anhöhe beginnt. Der flache Streifen bis zu heutigen Küsten wurde im Laufe der Geschichte, hauptsächlich aber in der Neuzeit, künstlich aufgefüllt. Die Gießerei war also am Wasser, am steilsten Hang gebaut, so dass Schiffe hier anlegen und die schweren Kanonen direkt laden konnten.
Kılıç-Ali-Paşa-Komplex:
Eine schöne Vorstellung, dass der geniale Hofarchitekt Sinan und der spanische Schriftsteller Cervantes hier sich in die Augen geguckt haben, der eine als Baumeister, der andere als Sklave. Sinan aus Kayseri ist ein durch Knabenlese islamisierter und türkisierter Armenier.
Auch der Bauherr ist ein ehemaliger Sklave: der konvertierte Italiener Occhiali, der spätere Kılıç Ali Paşa, ist als Admiral in die osmanische Kriegsmarinengeschichte eingegangen.
Der Autor von "Don Quijote" wurde in einem Türkenkrieg verletzt und wurde auf dem Heimweg gefangengenommen. Als halb verkrüppelter Sklave musste er hier wohl Steine schleppen. Kam es je zu dem Augenkontakt mit Sinan? Das wissen wir nicht so genau. Viel sicherer ist, dass er durch den Bauherrn freigesprochen wurde und ihm dankbar dafür war.
Die Geschichte dieser drei Männer ist inspirativ: ein Spanier, ein Italiener und ein Armenier.
Weiter nach Norden:
Das Tophane-Schlösschen im Park nördlich des Brunnens, der Uhrturm und die Nusretiye-Moschee aus dem 19. Jahrhundert werden in einem anderen Post behandelt.
Artillerie-Übungsplatz:
Das große in der Neuzeit aufgefüllte Gelände, wo heute die Wasserpfeifencafés und die hässlichen Bauten der Hafenverwaltung stehen, praktisch von der Kılıç-Ali-Paşa-Moschee bis zur Nusretiye-Moschee in Sichtweite, diente einst der Artillerie der osmanischen Armee als Übungsplatz.
Nachdem 1826 der Janitscharenkorps aufgelöst wurde, wurde die osmanische Armee reorganisiert. Europäische Experten wie der Preuße Helmut von Moltke waren gerne mit dabei. Kasernen, militärische Ausbildungsstätten und Übungsplätze wurden gebaut. Hier war die Quelle für die Artillerie, also die Kanonengießerei ganz nah, und der französische Kanonen-Chef Humbaracıbaşı Bonneval Paşa hätte es auch nicht weit zur Arbeit gehabt, wenn er nicht schon 70 Jahre zuvor gestorben wäre.
Künstlerschule:
Gemeint ist wohl eher "Handwerkerschule". Sanatkârlar Mektebi ist eine Ausbildungstätte des 19. Jahrhunderts. Heute existiert nur noch das gleichnamige Straßenschild unterhalb der Gießerei. Das, was aussieht wie eine archäologische Ausgrabungsstätte, hinter riesigen Reklameplanen versteckt, war die einstige "Künstlerschule". Es ist doch ein schöner Zufall, dass die Mimar-Sinan-Universität der Bildenden Künste gar nicht so weit von hier ist.
Erste Autofabrik der Türkei:
Anadol oder Tofaş?, welches war das erste in der Türkei gebaute Auto? Ford war es! Die Türken haben schon immer Ford geliebt. Gleich nach der Gründung der Republik 1923 versuchte man alles daran zu setzen, das Land zu industrialisieren. Das osmanische Reich hatte viele Züge verpasst. Die moderne Republik unter Atatürk rannte hinterher, um wenigstens den Abstand zu verkürzen, wenn schon die Züge nicht mehr zu erreichen waren. Das Artillerie-Gelände wurde ab 1925 Baugrundstück für die erste Autofabrik der Türkei. Ford hatte hier bis 1944 ein Montagewerk. Teile, die aus Übersee per Schiff ankamen, wurden gleich zu fertigen Autos montiert. Monatsproduktion: 45 Autos!
Die Amerikaner diktierten der frischen Regierung in Ankara das Hafengebiet als Freihandelszone und erhielten Steuerfreiheiten. Nicht nur die Türkei sollte die Autos bekommen, sondern der ganze Nahe Osten. Ford hatte weltweit solche Montagewerke in den Hafenstädten.
Die Türkei bestand darauf, dass 75% der Belegschaft türkische Staatsangehörige sein mussten.
Während des Zweiten Weltkrieges ging es dem Werk nicht mehr so gut, Amerikaner hatten anderswo andere Sorgen. Übereifrige türkische Bürokraten änderten ein paar Paragraphen in den Zollbestimmungen. Folge davon: Die Amerikaner gingen nach Alexandria in Ägypten. Nein nicht ganz! Sie ließen immerhin ihre Hemden und Hosen da...
Amerikan Pazarı:
Dort wo heute die Wasserpfeifen-Cafés sind, also wo einst das Artillerie-Gelände und später die Fordwerke waren, gab es ab den 50er Jahren den "amerikanischen Markt". Hier konnte man echte Jeans und andere Markenware an Kleidung haben. Zunächst waren es die in der Türkei stationierten amerikanischen Soldaten und andere Marshall-Planer, die vor ihrer Rückkehr ihre Habseligkeiten verkauften. So entstand die Bezeichnung Amerikan Pazarı. Später wurde ein Schmuggler-Markt daraus.
Die Türkei hatte ein in sich geschlossenes Wirtschaftssystem, ausländische Produkte waren nicht einfach zu haben. Die Währung war nicht konvertibel. Bis zur Regentschaft von Turgut Özal, dem Bewunderer der Chicago Boys, war es so. Und dann kam die große Freiheit! Wir schrieben die 80er Jahre...
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Muhteşem Kot
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Vorher gab es nur eine Jeanshosen-Marke KOT, doch verfärbten sich diese dunkelblauen Hosen gar nicht. Heute noch sagen die Türken "Kot" zu Jeans. Der unternehmenslustige Schneider Muhteşem Kot, der in den 40er Jahren in Frankreich die Bekanntschaft mit den amerikanischen Jeans gemacht hatte, fing mit der Produktion der Hosen in der Türkei an. Kurz darauf erfreute er sich hoher Beliebtheit seiner Marke. 1960 konnte er schon täglich 200 Hosen herstellen. Bis 1992 existierte die Firma noch.
Die Kot-Hosen hatten nur den Schnitt der Jeans, blieben aber immer hässlich dunkelblau. Das heißt, sie waren nicht indigo-gefärbt und nicht stonewashed. Das gefiel der jungen, modebewußten Generation gar nicht. Echte Jeans bestellte man entweder bei jemandem, der ins Ausland ging, oder man musste sie in diesen Geschäften in Tophane erstehen.
Nur wussten die Türken nie, ob sie hier zu teuer oder recht günstig gekauft hatten. Man verließ das Geschäft immer mit einem komischen Gefühl im Magen. Eben, der amerikanische Markt, frei...
İstanbul Modern:
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Im Buch: Ort 52
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Ein Muß für alle Kunstkenner und eine große Neuheit für die Türkei, da ein Museum der modernen Kunst fehlte. Staatliche Gemälde- und Skulpturenmuseen sind dank der Republik da, aber langweilig. Doch gab es erste Bestrebungen zu Sammlungen schon in den letzten Jahrzehnten des osmanischen Imperiums. Daß die Bildende Kunst vernachlässigt wurde, hat sicher mit dem religiösen Bilderverbot zu tun.
Eine ehemalige Hafenhalle hat durch die Initiative der bekannten, kunstfördernden Industriellen-Familie Eczacıbaşı eine sehr sinnvolle Nutzung bekommen.
Und die Cafeteria!
Wenn gerade kein Kreuzfahrtschiff am Kai festgemacht hat, ist der kühle Weißwein auf der Terrasse dort ein Genuss ohnegleichen.
Der Stadtteil im Dauerumbruch:
Tophane als Verlängerung des Hafengebietes mußte kosmopolitisch sein und war es auch. Nach dem Ersten Weltkrieg verließen die meisten Nichtmuslime, Nichttürken die Stadt. Tophane war eher bekannt als "Zigeunerviertel", da die verlassenen und heruntergekommenen Häuser gerne von Roma bewohnt wurden.
In den letzten Jahren des Reiches und in den ersten Jahrzehnten der Republik ist die Gegend berühmt für ihre Kabadayı, für die Rüpel, Rohlinge, Raufbolde und Stadtteil-Tyrannen. Diese Typen waren aber auch oft die Beschützer des Stadtteiles, der "Mahalle".
Mittlerweile wohnen viele türkische Araber und Kurden aus den südöstlichen Provinzen wie Siirt und Bitlis hier. Die Bausubstanz ist alt und oft schlecht.
Tophane liegt genau zwischen dem Kunstzentrum (Istanbul Modern, Mimar-Sinan-Uni) und bei Intellektuellen beliebten Viertel Beyoğlu. Daher siedeln sich hier Kunstgalerien und Design-Studios an, was bei der altansässigen Bevölkerung manchmal auf Widerstand stößt. Die "Ureinwohner" mögen nicht, wenn bei einer Vernissage auf dem Trottoire Alkohol getrunken wird. Sie mögen vieles nicht. Das Spannungsfeld bekommt man zu spüren, wenn man hier wohnt.
Das einzig Beständige ist der Wandel, auch in Tophane.